Allerseelenschlacht II

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Allerseelenschlacht II

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Veröffentlicht von Steven in Wandern · 19 Dezember 2021
DIE WELT
Das Wunder vom Hürtgenwald
  Von Guido Heinen

In den USA gilt er als Held, bei uns ist seine Geschichte unbekannt. Der Arzt Günter Stüttgen rettete 1944 Hunderten von verwundeten deutschen und amerikanischen Soldaten das Leben
Der Wald sieht so anders aus.“ Günter Stüttgen blinzelt den steilen Hang hinauf in die Sonne. „Aber hier. Hier kamen sie zum ersten Mal raus.“ Ganz ruhig steht er da, die Karte in der Hand, mitten auf der löwenzahngelben Wiese. Er entschuldigt sich: „Es kommen nur einzelne Szenen in die Erinnerung, nichts Zusammenhängendes. Bis zu diesem Tag kannten wir die Amis nur als Feinde.“
Dieser Tag. Es ist der 7. November 1944, und es ist hier im Wald in der Nähe des Städtchens Hürtgenwald. An diesem Tag nimmt das „Wunder vom Hürtgenwald“ seinen Anfang.
Aus Berlin propagiert Adolf Hitler den Kampf bis zum letzten Mann und fordert, die Soldaten „bis aufs Äußerste zu fanatisieren“, hier tut der Regimentsarzt Stüttgen, „was ein Arzt tun musste“. In der blutigsten deutsch-amerikanischen Schlacht des Krieges rettet er Hunderten von verwundeten deutschen und amerikanischen Soldaten das Leben und erspart ihnen die Gefangenschaft.
Deutsche und Amerikaner liegen, leiden und sterben dicht nebeneinander
In jenen dramatischen Tagen bricht die alliierte Offensive hauptsächlich amerikanischer Truppen, die von Belgien aus Richtung Rhein vorstoßen, am nördlichen Teil des „Westwalls“ in sich zusammen. Festgefahren in Schnee und Matsch, eingeklemmt zwischen gestürzten Bäumen, die Fahrzeuge verkeilt in schmalen Waldwegen, kommt der Vormarsch zum Erliegen. Gut ausgerüstete, in Hunderten Bunkern und ausgebauten Stellungen eingegrabene deutsche Soldaten bilden einen fast 40 Kilometer langen Sperrriegel. Die Truppen beider Seiten haben sich regelrecht festgefressen in den Abhängen.
„Kampf Mann gegen Mann“ umschreiben Militärhistoriker, was in diesen Wochen im Hürtgenwald passiert. „An manchen Tagen hatten wir mehr als 200 Verletzte, viele Tote, allein in meinem Abschnitt“, erinnert sich Stüttgen.
Sie wälzen sich auf den Wiesen, wimmern in dem kleinen Bachbett, schreien um Hilfe aus Schützenlöchern, die hier wegen des steinigen Bodens viel zu flach sind, um wirklich Schutz zu bieten. Deutsche wie Amerikaner liegen und leiden und sterben dicht nebeneinander. 12 000 Deutsche sterben hier und 55 000 Amerikaner.

Rotes Kreuz auf Brust, Arm und Helm
Ein unschuldiger Sommertag mehr als 56 Jahre danach. Da ist das enge Tal, das Bächlein Kall fließt wie damals, die klaustrophobisch abfallenden, dicht bewaldeten Hügel. Stüttgen war damals 25. „Vom Steilhang da drüben sahen wir nur die Feuerstöße der Maschinengewehre.“ Das Blecken des Mündungsfeuers, ab und zu ein Schatten, der von einem Erdloch zum anderen rennt. Auf dem schmalen Weg ins Tal ausgebrannte amerikanische Panzerfahrzeuge, die der Befehlshaber über steile Wege hinabgeschickt hatte ins Verderben, direkt vor die deutschen Panzerfäuste.
„Mutig war, wer sich an den Panzer heranrobbte, hinten aufsprang, Klappe auf, und die Handgranate rein“, erinnert sich Stüttgen. Dafür ziehen die Deutschen ihre Wehrmachtsstiefel aus und Turnschuhe an, um flinker zu sein. Es ist kurz vor Allerseelen. An diesem Feiertag im November wird der Seelen der Toten gedacht, die vor der Aufnahme in den Himmel durch das reinigende Fegfeuer müssen. „Allerseelenschlacht“ sagen die Menschen hier noch heute.
„Eine glasklare Front gab es nicht.“ Stüttgens Aufgabe: erste Versorgung der vielen Verletzten, Transport weg von der Kampflinie zum Sanitätsbunker, erste Operationen, Amputationen, weiter zu den Verbandsplätzen. Irgendwann liegt der erste angeschossene Amerikaner vor ihm. Und - er versorgt ihn. „Natürlich.“ Natürlich war gar nichts. Was er tat, reichte für das Todesurteil. Nun ja, er habe das Rote Kreuz auf Brust, Arm und Helm „einfach ernst genommen“.

Eine Hölle aus Feuer und Tod
Die Artillerie beider Seiten schleudert tonnenweise Granaten ins Kampfgebiet. Die deutschen Kanonen stehen an der Rurtalsperre, dem strategischen Ziel der Alliierten. Auch die amerikanischen Geschütze feuern, was die Rohre hergeben - aber oftmals ohne Orientierung. Ihre Granaten gehen auf Deutsche und Amerikaner gleichermaßen nieder. „Wir hatten so die Schnauze voll, auf beiden Seiten“, erinnert sich Stüttgen.
Es ist eine Hölle aus Feuer und Tod, und sie ist tief eingegraben in das Bewusstsein der beiden Völker, Ernest Hemingway kämpfte auf amerikanischer Seite, Heinrich Böll auf der deutschen.
Die Front verschiebt sich täglich, zuweilen stündlich, aber immer nur wenige Hundert Meter. Das Dorf Vossenack wird an einem Tag drei Mal erobert und wieder verloren, die mächtige Kirche dient der jeweiligen Artillerie als Richtpunkt: Gehen die eigenen Truppen vor, wird ihnen eine Feuerwalze vorangeschickt, um die feindlichen Stellungen in die Deckung zu zwingen. Nach der Eroberung ist es dann umgekehrt. „In diesem Feuerregen saßen wir, Deutsche und Amis gemeinsam, in derselben Scheiße.“

Waldkampferfahrung – ein dunkler, deutscher Albtraum
Nicht nur militärisch verschwimmt die Front, auch menschlich. „Die Amerikaner waren völlig demoralisiert.“ Sie fühlen sich von ihren Befehlshabern allein gelassen.
Dieser Wald - ein dunkler, deutscher Albtraum. Viele sterben im „friendly fire“ der eigenen Artillerie.
Von den Bäumen prallen die Schrapnelle ab. Die Deutschen feuern aus gut getarnten Positionen, die immer erst entdeckt werden, wenn sie schon das Feuer eröffnen. Amerikanische Militärexperten werten heute den Huertgenwald Battle als erste „Waldkampferfahrung“ der US Army, als vorgezogenes Vietnam, als verpasste Chance, als Symbol großen militärischen Versagens. „Oftmals standen wir ganz unvermittelt vor verirrten Amis, die sich dann gefangen nehmen ließen.“

Zigaretten für die Deutschen, Kommissbrot für die Amis
Am 7. November kommt es zum ersten, vorsichtigen Kontakt von Sanitätspersonal: Die Amerikaner haben gehört, die Deutschen ließen die Bergung ihrer Verwundeten zu und stellten dafür das Feuer dafür ein. Sie testen es.
Drei Sanitäter nähern sich unbewaffnet den deutschen Linien, wollen sie kurz überschreiten, um im Waldstück dort drüben verwundete GIs zu versorgen. Ein deutscher Posten greift sie auf, er spricht kein Wort Englisch. Sie bieten ihm Zigaretten an. „Dann ging es“. Günter Stüttgen zählt die damals begehrtesten Währungen auf: Zigaretten für die Deutschen, Kommissbrot für die Amis.
Einen Waffenstillstand ersehnen beide. Dieser erste Kontakt findet direkt vor dem Lauf eines eingegrabenen schweren deutschen MGs des 1056. Infanterieregiments statt. Freies Geleit, mehr ist es vorerst nicht, aber in diesem von Granaten aufgewühlten Tal eine Sensation.

Waffenstillstand für verletzte Soldaten
So beginnt das „Wunder vom Hürtgenwald“, wie es heute von amerikanischen Veteranen genannt wird: Stüttgen und ein Sanitäter, beide mit dem Zeichen vom Roten Kreuz, nähern sich unbewaffnet den amerikanischen Linien und laden einen amerikanischen Einheitsführer in ihren Gefechtsstand ein. Mit verbundenen Augen wird er in die Mestrenger Mühle geführt, von der aus die deutsche Seite die Kämpfe im Tal leitet.
In den folgenden Tagen gelingt es Stüttgen drei Mal, einen mehrstündigen Waffenstillstand auszuhandeln. Gedeckt von seinem Regimentskommandeur, Oberst Rösler, ermöglicht er, dass Hunderte von Verwundeten und Gefangenen über die Linien hinweg ausgetauscht und verpflegt werden. Deutsche Sanitäter bergen Amerikaner, tragen sie bis weit in ihre Etappe. Stüttgen betreibt seinen Sanitätsbunker für einige Tage sogar zusammen mit amerikanischen Sanitätssoldaten, die ihm zur Hand gehen.
„Es war massive Fraternisierung im gemeinsamen unabwendbaren Schicksal“, sagt er heute. Die Amerikaner schenken den Deutschen Zigaretten und Verbandsmaterial, die Deutschen revanchieren sich mit dem begehrten Kommissbrot, das ihre Feinde in sich hineinschlingen. Das Elend rührt die deutsche Seite. Einmal, bei der letzten Waffenstillstandsverhandlung, war auch Kompaniechef Heinz Münster dabei. Er beschreibt das Grauen auf der amerikanischen Seite des Tals: „Zwischen verlassenen und abgeschossenen Panzern lagen Verwundete und Gefallene von beiden Seiten. Freund und Feind hockten völlig durchnässt, ausgehungert und deprimiert in ihren Erdlöchern.“

Günter Stüttgen: „Wir hatten Respekt voreinander“
Nach Stüttgens Erinnerungen organisierten Sanitäter und Ärzte alles. „Das Rot-Kreuz-Zeichen wurde stets von allen Seiten respektiert. Im Prinzip war also der Zustand des Waffenstillstands eine medizinische Angelegenheit unter dem Roten Kreuz.“
Er ist bis heute, bis ins Alter von 82 Jahren, Arzt geblieben. Nach dem Krieg beendete er seine Ausbildung, wurde Facharzt für Dermatologie, arbeitete an der Universitätsklinik Düsseldorf und ab 1969 am Virchow-Klinikum in Berlin und als Lehrstuhlinhaber der Freien Universität - hoch angesehen.
„Wir hatten Respekt voreinander“, erklärt er die außergewöhnlichen Vorgänge im Hürtgenwald. „Respekt, den nur Soldaten voreinander haben können, die den Schrecken des Krieges kennen.“ Stüttgen steht auf einem der wenigen Bunker, die es heute noch gibt. „Hier waren wir sicher“, erinnert er sich, und man spürt noch die Erleichterung, die er empfand, wenn er damals nach geducktem Zickzacklauf von Loch zu Loch, einen Verwundeten mitziehend, endlich seinen Sanitätsbunker erreichte. „Hier kamen selbst die Sherman-Panzer nicht gegen an, aber der Krach da drin war fürchterlich, wenn die auf uns schossen.“ Er stößt mit dem Fuß ein Steinchen die Treppe hinab ins Dunkel des Betonkolosses.

Auf den Spuren der Kämpfe
Elastischen Schritts läuft er durch die Wiesen, auf denen vor 52 Jahren das Grauen lag. Die kleine Steinbrücke hier - wie oft erobert, verloren, wieder erobert? Doch, etwas hat sich verändert. Kein Baum hier ist älter als 50 Jahre. Nur langsam haben die Pflanzen die granatendurchpflügten Hänge zurückerobert. Unter dem grünen Baumdach immer wieder Trichter, Gräben, Erdwälle, Spuren der Kämpfe. „Der Wald ist so jung“, murmelt Stüttgen. Jünger als er.
So leise und konzentriert, wie er jetzt die Stellen sucht, an denen er Krieg führte, so muss Stüttgen auch damals gewesen sein. Wenn abends die Nahkampfpäckchen verteilt wurden, Schokolade, Bananen, Aufputschmittel, um den Schrecken des Sturmangriffs am nächsten Morgen seelisch zu überstehen, ersäuften viele Landser ihre Angst in Schnaps und Bier.
„Ich habe mich lieber körperlich fit gehalten“, grinst der passionierte Läufer. Er redet nicht gern, nicht flüssig über seine Erlebnisse. Seine Erinnerungen hängen an Orten, an Grasnarben, Bäumen, Hügelketten: Hier kam der Ami raus, da oben war unser Bunker, diesen Hang haben wir erstürmen müssen.

„Wir haben getan, was wir tun mussten“
Stüttgen, der aus dieser Gegend stammt, hat noch heute Mitleid mit den GIs, die im fremden Land gegen Verteidiger anrennen mussten. Hier, direkt vor den alten deutschen Städten Aachen und Köln, wo die Dörfer urdeutsche Namen tragen wie Gey, Silberscheidt oder Schmidt. Es könnten deutsche Familiennamen sein, Wesen mit uralter Geschichte, seit Jahrhunderten hier. Die Soldaten aus Pennsylvania fühlten sich hier fremd - und zugleich heimisch. „Nicht wenige sprachen Deutsch, hatten direkte deutsche Vorfahren“, erinnert sich Stüttgen.
Es gibt eine Ehrenurkunde für ihn - und ein Gemälde. „A Time For Healing“ heißt es. Es wurde ihm zu Ehren in Auftrag gegeben von seinen Feinden von damals, der 28. US-Infanteriedivision. Er und sein amerikanischer Feind und Waffenstillstandspartner haben Kopien 1400 Mal signiert. Stüttgen selbst besitzt ein einziges Exemplar. Er ist nicht eitel. An der Kopie, die im Hürtgenwald-Museum in Vossenack hängt, geht er schnell vorbei. Er will nicht daneben stehen, ebenso wenig wie neben den anderen Dokumenten und Fundstücken aus dieser Schlacht, in der über 240 000 Soldaten kämpften.
Irgendwann, in einem dieser dunklen, engen Hohlwege, wie einer auf dem Gemälde zu sehen ist, muss sie dann kommen, die Frage, die man sich kaum zu stellen getraut: Und, sind Sie ein Held? Stüttgen, der mit Nahkampfspange und Eisernem Kreuz dekorierte Arzt, der nie schwer verwundet wurde, der noch kurz vor Kriegsende an einem anderen Frontabschnitt ein ganzes Lazarett kampflos dem Feind übergab und dafür in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde, blickt dann ganz streng. So, als analysiere er eine erkrankte Hautstelle. „Nein, wir haben getan, was wir tun mussten.“ Und wenn er „wir“ sagt, meint er auch seine Freunde auf der amerikanischen Seite.

Günter Stüttgen hat das „Wunder vom Hürtgenwald“ fast 50 Jahre lang für sich behalten. Bis heute ist es in Deutschland praktisch unbekannt. In den USA begannen jedoch Militärhistoriker Anfang der neunziger Jahre, nach jenem geheimnisvollen „german doctor“ zu suchen, der in so vielen Schilderungen amerikanischer Soldaten auftauchte. Schließlich spürte die noch heute im Dienst stehende 28. US-Infanteriedivision ihren Feind von damals auf. Sie ehrte ihn 1996 als Gast der Nationalgarde in einer Feierstunde, an der auch der deutsche Botschafter Jürgen Chrobog teilnahm. In der Heimat nahm kaum jemand Notiz davon.


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